Armseliges Europa

ProdiHandelsblattRomano Prodi über die ängstliche Politik gegenüber den arabischen Staaten.

Handelsblatt vom 28.02.2011, Seite 56

Nicht von Europa, sondern von US-Präsident Barack Obama bekamen in Ägypten die jungen Menschen Unterstützung, die gleiche Rechte, Freiheit und Demokratie forderten. Und auf die libysche Tragödie hat Europa auch keinen Einfluss. Die Europäer haben lange Zeit gar nicht überlegt, wie sie Einfluss nehmen könnten. Erst die Angst, dass die Tragödie in Nordafrika Hunderttausende von verzweifelten Flüchtlingen an unsere Küsten schwemmt, bringt uns zum Nachdenken. Wenn ich in die Länder Nordafrikas reise, werde ich immer wieder gefragt, warum wir Europäer uns politisch nicht um sie kümmern – obwohl wir am stärksten in dieser Region investieren und ihre Probleme und ihre Kultur kennen.

Die Europäische Union hat sich immer geweigert, das Problem des Mittelmeerraums anzugehen. Mir als Präsidenten der Europäischen Kommission (1999 bis 2004) hat man vorgeworfen, dass wir unseren Blick nur Richtung Osten wenden. Damals war es für mich leicht zu antworten, dass die Geschichte uns zu dieser Wahl zwingt. Ich versprach, dass wir unsere Aufmerksamkeit dem Süden zuwenden, sobald die Notsituation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vorbei ist. Um diesen Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen, hat meine Kommission einen Vorschlag vorangetrieben, der unter dem Namen „Der Ring der Freunde“ bekannt wurde. Danach sollten die Länder, die uns umgeben – von Weißrussland bis zur Ukraine, von Ägypten bis nach Marokko –, mit der Zeit die Chance bekommen, Kooperationen mit der EU aufzubauen, ohne Mitglied der Union zu sein. Von dieser Politik wurde aber nichts durchgesetzt.

Die Kommission hat später vorgeschlagen, eine „Bank des Mittelmeerraums“ ins Leben zu rufen, die der Entwicklung der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Aktivitäten der Länder im Süden dienen sollte. Die Idee war, so auch Kapital von Regionen außerhalb der Teilnehmerländer anzulocken, vor allem aus den Golfstaaten.

Auf diesen Vorschlag bekamen wir die Antwort, die Europäische Investitionsbank sei bereits ausreichend. Später verwarf man schon in einem frühen Stadium die Idee, Partnerschaften zwischen Universitäten zu schaffen. Dabei sollten Studenten und Dozenten jeweils zu gleichen Teilen aus dem Norden und dem Süden kommen und entsprechend auch die Lehrpläne ausgestaltet werden. Und die Stiftung Anna Lindh, die in Kooperation mit der Bibliothek von Alexandria in Ägypten eine Anlaufstelle für den politischen und kulturellen Dialog sein sollte, hat man hoffnungslos dahinsiechen lassen.

Endlich hat man dann die „Union für den Mittelmeerraum“ ins Leben gerufen. Nicht nur die Feierlichkeit des Namens, sondern auch die mediale Begleitung ließen auf einen Richtungswechsel hoffen. Aber es gab kaum Geld für das Projekt. Unsere Partner im Süden haben ihre Enttäuschung nicht verhehlt: Einer der Top-Manager des Projekts hat seinen Job an den Nagel gehängt und ist nach Jordanien zurückgekehrt, weil es für ihn in Barcelona nichts zu tun gab. Eines muss man dabei freilich zugestehen: Es ist völlig undenkbar, eine auch nur ansatzweise funktionierende Mittelmeerpolitik zu verwirklichen, wenn der gesamte Haushalt der EU konstant unter einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Mitgliedsländer gehalten wird.

Wie auch immer sich die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen entwickeln werden: In den Ländern am südlichen Ufer des Mittelmeers hat eine neue Ära begonnen. Es ist schwer zu sagen, ob sie sich einer reifen Demokratie nähern oder lange Phasen der Instabilität durchlaufen müssen. Wir stehen gerade erst am Anfang dieses Prozesses. Dennoch ist es unglaublich zu sehen, dass die Europäische Union völlig unvorbereitet ist, den Weg zu einer Demokratisierung zu fördern und den arabischen Ländern zu helfen.

Wir reden gern vollmundig von Freiheit, Rechten, Demokratie und Kooperation. Aber wir haben keine politischen Konzepte. Wir denken nur an hektische Notfallpläne für den Fall, dass es wirklich zu einem Exodus biblischen Ausmaßes in Richtung der europäischen Küsten kommt.

Europa tut sich auch deswegen schwer mit einer angemessenen Reaktion, weil wir selber Probleme haben: Aus der Wirtschaftskrise ist eine Krise der europäischen Institutionen geworden. Wir sollten aber daran erinnern, dass der Vertrag von Lissabon den Bürgern als tragender Pfeiler einer neuen gemeinsamen Außenpolitik verkauft wurde. Es ist traurig feststellen zu müssen, dass im Angesicht einer dramatischen historischen Entwicklung, die uns hautnah betrifft, eine europäische Außenpolitik nicht existiert.

Der Autor war italienischer Ministerpräsident und Präsident der EU-Kommission. Sie erreichen ihn unter: gastautor@handelsblatt.com

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Dati dell'intervento

Data
Categoria
febbraio 28, 2011
Estero